Deutsche Gedichte

Johann Wolfgang von GoetheErlkönig (1782)

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

Es ist der Vater mit seinem Kind;

Er hat den Knaben wohl in dem Arm,

Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Friedrich SchillerDie Bürgschaft (1798)

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich

Damon, den Dolch im Gewande;

Ihn schlugen die Häscher in Bande.

„Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!“

Heinrich HeineDie Loreley (1824)

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,

Dass ich so traurig bin;

Ein Märchen aus alten Zeiten,

Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Joseph von EichendorffMondnacht (1837)

Es war, als hätt’ der Himmel

Die Erde still geküsst,

Dass sie im Blütenschimmer

Von ihm nun träumen müsst’.

Conrad Ferdinand MeyerDer römische Brunnen (1882)

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt

Er voll der Marmorschale Rund,

Die, sich verschleifend, überfließt

In einer zweiten Schale Grund.

Theodor FontaneJohn Maynard (1886)

„John Maynard!“ „Wer ist John Maynard?“

„John Maynard war unser Steuermann,

Aushielt er, bis er das Ufer gewann,

Er hat uns gerettet, er trägt die Kron’,

Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.

John Maynard.“

Rainer Maria RilkeDer Panther (1902)

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

So müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

Und hinter tausend Stäben keine Welt.

Christian MorgensternDie unmögliche Tatsache (1908)

Palmström, etwas schon an Jahren,

wird an einer Straßenbeuge

und von einem Kraftfahrzeuge

überfahren.

Else Lasker-SchülerEin alter Tibetteppich (1910)

Deine Seele, die die meine liebet,

Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.

Strahl in Strahl, verliebte Farben,

Sterne, die sich himmellang umwarben.

Bertolt BrechtErinnerung an die Marie A. (1920)

An jenem Tag im blauen Mond September

Still unter einem jungen Pflaumenbaum,

Da hielt ich sie, die stille, bleiche Liebe,

In meinem Arm wie einen holden Traum.

Ingeborg BachmannDie gestundete Zeit (1953)

Es kommen härtere Tage.

Die auf Widerruf gestundete Zeit

wird sichtbar am Horizont.

Bald musst du den Schuh schnüren.

Mascha KalékoSozusagen grundlos vergnügt (1977)

Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen

Und dass es regnet, hagelt, friert und schneit,

Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,

Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.

Goethe
Schiller
Heine

Eichendorff’
Meyer
Fontane

Rilke
Morgenstern
Lasker-Schüler

Brecht
Bachmann
Kaléko